Wenn es mir schlecht ging, aber nicht so schlecht, dass ich nicht aus dem Bett kam, habe ich Fenster geputzt.
Manchmal nur eines, manchmal zwei oder drei. Von innen und von außen. Ich habe den Eimer mit heißen Wasser gefüllt, einen Spritzer Spülmittel hineingegeben und dann angefangen.
Meine Hände haben langsam gearbeitet, aber effektiv. Mit dem Baumwolltuch habe ich die Scheibe trocken gerieben. Es ging mir darum, den größten Schmutz von der Scheibe zu bekommen. Innen die kleinen dunklen Kleckse von Fliegendreck, außen Staub und Dreck, die ein starker Wind mit Regen auf dem Glas hinterlassen hatte.
Drei Dinge habe ich damals geübt:
1. Perfektionismus ist nicht nötig: das Fenster kann sauber sein, ohne dass alle Streifen wegpoliert sind.
In meinem Leben wurde mir zweimal gesagt, dass nicht alles perfekt sein muss. Einmal von meinem Professor an der Uni: „Frau Juelich, es muss nicht immer 100% sein, 80% reichen auch.“
Das andere Mal von meinem Vorgesetzten im Vertrieb, ungefähr mit den gleichen Worten. Es ging um Verkaufszahlen und Organisation, irgendetwas in diese Richtung. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.
"Ich frage mich manchmal, ob mein Hang zum Perfektionismus mich dazu brachte."
Ich war damals als einzige Frau Area Managerin im Export geworden. Unabhängig davon, dass ich auch gleichzeitig die Aufgabe hatte, im Innendienst zu arbeiten, was natürlich ein Mann nie hätte machen müssen - aber das ist ein anderes Thema- , war ich gerade als Frau gezwungen, alles besser zu machen als ein Mann.
Ich frage mich manchmal, ob mein Hang zum Perfektionismus mich dazu brachte, so zu denken. Aber dann erinnere ich mich wieder, dass ich nicht zu Export-Meetings eingeladen wurde, weil das „ja nicht wirklich interessant ist“. Alle meine männlichen Kollegen waren natürlich selbstverständlich mit dabei. Also blieb mir nichts anderes übrig, als immer mehr zu geben.
Ich denke mir, dass die äußeren Umstände mit dazu beigetragen haben, dass mein Suchen nach Perfektion mir irgendwann die Luft zum Atmen nahm. Denn für wen Perfektion zum Maß aller Dinge wird, der steht irgendwann da und ist unfähig, überhaupt noch irgendetwas zu beginnen.
Warum das? Weil egal was man tut, nichts kann dem Anspruch an sich selbst mehr standhalten.
Wenn Du also das nächste Mal die Fenster putzt oder irgendeine andere Sache machst, poliere nicht alle Schlieren auf dem Fenster oder lasse bewusst etwas weg.
2. Ich lebe trotzdem, auch wenn nicht alles perfekt ist.
Ich habe sehr schnell feststellen müssen, dass ich auch lebe, wenn ich nicht mehr so gut funktioniere. Ich wurde sehr krank, und ich war physisch und psychisch einfach nicht mehr in der Lage, überhaupt irgendetwas zu machen. Ich war die meiste Zeit bettlägerig, hatte schwere Schmerzen und kaum noch Lebenswille. Und trotz allem habe ich existiert, geatmet, gelebt. Es war nicht das Leben, das ich mir ausgemalt oder jemals vorgestellt hatte. Aber ich war am Leben.
"Heute bedauere ich die Zeit, die verloren habe."
Niemals hätte ich gedacht, dass es mich treffen würde. Dass ich jemand sein würde, der jahrelang im Bett liegt und "nichts" tut.
So habe ich es gesehen. Ich war krank. Ich konnte nichts tun. Und fühlt mich trotzdem schuldig. Ich fühlte mich schuldig, dass ich nicht perfekt war. Dass ich nichts leisten konnte. Dass ich nicht zu gebrauchen war.
Muss ich Dir sagen, dass das natürlich nicht gerade hilfreich war? Ich war also nicht nur krank, sondern auch depressiv.
Heute bedaure ich die Zeit, die verloren habe. Nicht unbedingt während ich krank war, sondern all die Jahre, in denen ich nicht auf mich aufgepasst und auf mich geachtet habe. All die Jahre, in denen ich mehr darauf geachtet habe, wie es anderen geht, als sicher zu stellen, dass ich ok bin.
Und das bringt mich zu…
3. Fenster putzen ist ein guter Anfang, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Wenn man überhaupt nichts mehr tun kann und selbst das morgendliche Aufstehen zur Qual wird, ist es sehr schwierig, zurück ins Leben zu finden. Bei mir waren es ganz viele verschiedene Dinge, die ich hätte tun müssen, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
Ich war finanziell auf null zurückgeworfen worden. In meinem Haus herrschte das vollkommene Chaos. Ich musst Hilfen beantragen und mich zudem auch um mein kleines Kind kümmern.
Wo fängt man an, wenn alles um einen zusammenbricht?
"Und was hat das jetzt wieder mit dem Fensterputzen zu tun?"
Das Schlimme daran war, dass ich mit jedem Tag, an dem ich nichts machte oder erledigte, noch mehr darunter litt. Ich fühlte mich wertlos und faul.
Damals begann ich, in meinem Kalender einzutragen, was ich tagsüber gemacht hatte. Anfangs stand da nicht viel, nur so etwas wie: geduscht, Katzen gefüttert oder Arzt angerufen.
Mit den Monaten und Jahren wurde es mehr - und auch heute fülle ich die Seiten meines Kalenders mit den Dingen, die ich erledigt habe. Bei manchen Sachen, wie Rentenantrag am soundsovielten versendet, ist es oft sogar wirklich hilfreich, weil man alles dokumentiert. Aber ich schreibe auch auf, dass ich den Badezimmerschrank aufgeräumt oder den Biomüll runtergebracht habe.
Ich habe also damit angefangen, mich selber sogar für die kleinste Kleinigkeit zu loben, indem ich sie wert fand, sie aufzuschreiben. Wenn eine Woche herum war und ich sehen konnte, dass ich etwas „geleistet“ hatte, ging es mir immer gleich etwas besser.
Und was hat das jetzt wieder mit dem Fensterputzen zu tun?, fragst Du Dich wahrscheinlich jetzt.
Nun, es ist einfach extrem schwer, nach oder während einer schweren Krankheit oder auch nach oder während einer Lebenskrise wieder Fuß zu fassen. Die ersten Schritte sind die schwersten.
Ich habe damals das Fensterputzen für mich gefunden. Es schien manchmal das Einzige zu sein, zu dem ich fähig war.
Ich habe den Eimer mit heißen Wasser gefüllt, einen Spritzer Spülmittel hineingegeben und dann angefangen. Meine Hände haben langsam gearbeitet, aber effektiv. Mit dem Baumwolltuch habe ich die Scheibe trocken gerieben.
Wenn ich mit einem Fenster fertig war, konnte ich sehen, dass ich etwas an diesem Tag getan hatte. Vielleicht war es nicht perfekt sauber. Aber ich war aufgestanden und hatte es versucht.
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Auf Deine emotionale Unabhängigkeit!
Herzlichst,
Silke Kristin
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